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Kleiner, leichter, sicherer

Der Avabag von Ortovox – Entwickler-Interview

8 Minuten Lesezeit
Kaum eine Outdoor-Marke steht so für Lawinensicherheit wie Ortovox. Seit Herbst 2016 haben die Taufkirchener mit dem AVABAG ein eigenes Lawinenairbag-System. Die wichtigsten Facts im Interview mit dem Ortovox-Entwickler Johannes Kuntze-Fechner.

Auf der ISPO 2016 präsentierte Ortovox sein erstes selbst entwickeltes Lawinenairbag-System – und sahnte damit prompt den Titel „ISPO Product of the Year 2016/17“ ab. 690 Gramm leicht und ein Volumen von 1,8 Liter sind an sich schon mal beeindruckende Hausnummern. Aber wie ging die Entwicklung vonstatten? Was zeichnet den Avabag genau aus? Was ist für Ein- und Umsteiger zu beachten? Im Interview erklärt Johannes Kuntze-Fechner, Produktentwickler bei Ortovox, das Wichtigste zum neuen Lawinenairbag:

Das Avabag-System: Leitgedanken

Johannes Kuntze-Fechner, Entwickler bei Ortovox, erklärt das neue AVABAG-System. | Foto: Stefan Rehm
Johannes Kuntze-Fechner, Entwickler bei Ortovox, erklärt das neue Avabag-System. | Foto: Stefan Rehm

Stefan Rehm: Bisher wurden in Ortovox-Rucksäcken Airbags von ABS verbaut. Mit dem Avabag habt ihr jetzt ein neues, eigenes System entwickelt. Warum die ganze Mühe?

Johannes Kuntze-Fechner: Die Firma Ortovox steht für Lawinensicherheit. „Ortovox schützt“ ist unser Leitgedanke. Daraus ist die Marke entstanden und das ist auch unser Anspruch. Wir wollen in diesem Lawinen-Sicherheitsthema unsere Position haben. Da war es natürlich naheliegend, neben LVS-Geräten, Sonden und Schaufeln auch Lawinenairbags selbst zu entwickeln und das Know-How im Haus zu haben. Damit schließt sich der Kreis der Lawinensicherheitsprodukte.

Gibt es eine besondere „Idee“, einen Leitgedanken, der bei der Entwicklung zugrunde lag?

Wir haben uns auf die Kernpunkte des Systems gestützt: Es musste praktikabel sein, so dass man es gerne mitnimmt. Was es damals auf dem Markt gab, war schwer und groß. Unser Fokus war, ein sehr leichtes und sehr kompaktes System zu bauen.

Ist das Gewicht also der Hauptunterschied zu anderen Airbag-Systemen auf dem Markt?

Ja, definitiv. Wir haben das leichteste und kompakteste System, das ist definitiv unser Alleinstellungsmerkmal. Aber es gibt noch mehr Punkte: Da ist einerseits das Gewicht, das Packvolumen und natürlich auch die sinnvolle Anordnung im Rucksack. Dann war uns wichtig, dass wir ein sicheres und simples System haben, das unanfällig für Störungen ist. Dazu kommt das Thema Griff und Auslöse-Training. Wir wollten einen Griff haben, der gut zu erreichen ist, egal welche Handschuhe man trägt und mit welcher Hand man zieht. Und natürlich wollten wir auch einen sehr guten Rucksack bauen, den man gerne mit dabei hat.

Blick in die Entwickler-Werkstatt: Die Entstehung

Diese Punkte standen ja vor der Entwicklung schon fest – gab es dann für die Umsetzung eine Art Fahrplan, nach dem die Punkte entwickelt und überprüft wurden?

Nach der Sondierungsphase haben wir in diesen fünf Teilbereichen – Gewicht, Packvolumen, störunanfälliges System, Griffoptimierung und Auslösetraining – begonnen, unterschiedliche Ideen zu sammeln. Die mussten wir zusammenbringen. Und natürlich hatten wir auch eine Deadline. Die Sondierungsphase ist komplett frei, da kann man spinnen, aber dann kommt ein Design-Briefing und dann muss man auch in die Pötte kommen.

Kann ich mir das so vorstellen, dass ich beispielsweise drei unterschiedliche Griffe baue und mir dann drei Kollegen schnappe und das mit denen in allen Variationen durchprobiere?

Ja, so in der Art, nur haben wir mindestens 20 Griffe gebaut. Natürlich machen wir viele Feldversuche. Da lässt man mal eine schwächere Person ziehen und mal eine kräftigere und justiert dann die Kraft.

Wie lange hat die Entwicklung denn eigentlich gedauert? Und wie viel Manpower habt ihr hineingesteckt?

Von uns haben drei Mitarbeiter daran gearbeitet. Zusätzlich haben wir zwei externe Mitarbeiter hinzugezogen. Insgesamt hat das etwa zweieinhalb, drei Jahre gedauert. Für uns war das ein riesiges Projekt.

Wie funktioniert der Avabag?

Was muss ich beim Umstieg auf den AVABAG beachten? | Foto: Christoph Oberschneider
Was muss ich beim Umstieg auf den Avabag beachten? | Foto: Christoph Oberschneider

Wenn ich mir jetzt das neue Avabag-System zulege: Muss ich dann bei der Bedienung etwas „umlernen“?

Das Handling ist nahezu identisch mit anderen Lawinenrucksäcken. Es sind kleine Details, auf die man achten muss. Aber grundsätzlich funktionieren im Moment alle Kartuschensysteme auf dem Markt nach demselben Prinzip.

Und was sind die kleinen Details, auf die man achten muss?

Man muss darauf achten, dass das System gespannt ist, bevor man die Kartusche einschraubt. Dann muss man wie bei jedem Kartuschensystem überprüfen, ob die Kartusche voll oder leer ist. Das sind die beiden wesentlichen Punkte. Im Vergleich zu einigen anderen Systemen ist es letztlich sogar weniger, das man im Blick haben sollte. Ein großer Vorteil ist, dass ich das System – ohne eingeschraubte Kartusche aber mit gespanntem System – auch testen kann und ein lautes Klick als Rückmeldung bekomme. So kann ich den Ernstfall auch in sicherem Gelände üben.

Wie funktioniert der Ein- und Ausbau des Systems in den Rucksack?

Das System kann man zwischen den Rucksäcken der Avabag-Reihe wechseln. Es gibt drei Haken und zwei Klettbänder. Das geht an und für sich sehr einfach, wenn man das ein, zwei Mal gemacht hat.

Das heißt, ich kann das System auch mit zwei unterschiedlich großen Rucksäcken nutzen, etwa in einem fürs Freeriden und einem anderen für die Ski-Durchquerung?

Ja genau, wir haben bis jetzt drei Rucksack-Modelle im Programm, und die kann man alle nutzen.

Ist das Avabag-System eigentlich auch kompatibel mit Rucksäcken anderer Hersteller?

Zum aktuellen Stand nein.

Wie ist das mit der Form? Inwieweit trägt die Form beim Avabag zum Schutz in einer Lawine bei?

Da gibt es bisher keine Aussagen dazu, welche Wirkung die Form auf die Überlebenswahrscheinlichkeit hat. Es existieren keine Studien. Wir haben durchaus an der Form gefeilt. Denn wenn ich in eine Lawine gerate und auslöse, will ich ja trotzdem flüchten. Deshalb sind Bewegungsfreiheit für den Kopf und das Sichtfeld wichtig, weil ich mit ausgelöstem Airbag immer noch skifahren können sollte.

Vorteile des Avabag-Systems

"Wenn man das leichteste System auf dem Markt entwickeln will, kommt man um Gaskartuschen nicht herum." | Foto: Ortovox/Hansi Heckmair
„Wenn man das leichteste System auf dem Markt entwickeln will, kommt man um Gaskartuschen nicht herum.“ | Foto: Ortovox/Hansi Heckmair

Warum hat sich Ortovox eigentlich für ein Kartuschen-System entschieden? Was sind – aus eurer Sicht – die Vorteile gegenüber elektronischen Turbinensystemen wie Jetforce oder VoltAir?

Wenn man die Energiedichte vergleicht, die in einem Akku und in einer Kartusche steckt, dann ist diese in dem komprimierten Gas der Kartusche etwa zehn Mal höher. Wenn man das leichteste System auf dem Markt entwickeln will, kommt man um Gaskartuschen nicht herum. Es gibt einfach nichts Leichteres, was die Energie herbringt.

Und natürlich geht es hier auch um einen Sicherheitsaspekt. Wenn man die Kartusche überprüft und sie voll ist, hat sie immer die gleiche Energie, egal welche äußeren Umstände bestehen. Das ist deutlich weniger komplex als ein elektronisches System – und damit weniger fehleranfällig. Natürlich muss ich dafür auch Abstriche machen: ich kann den Airbag eben nicht mehrfach auslösen. Aber dafür habe ich auch nur ein Drittel an Gewicht.

Wurden für die Entwicklung auch Berichte von Lawinenunfällen mit einbezogen, bei denen Lawinenairbags beteiligt waren? Werden solche Berichte von Ortovox auch systematisch ausgewertet?

Ja, natürlich wird so etwas von uns auch gesichtet. Es gibt eine Studie von Pascal Haegele et al. und dem SLF, nach der 20 Prozent der Menschen, die in eine Lawine kommen, nicht auslösen. Allein bei zwölf Prozent war der Rucksack technisch nicht in Ordnung. Aus diesem Gedanken heraus haben wir zum Beispiel Einbau, Griffanpassung und die erwähnte Trainingsmöglichkeit entwickelt.

Bleibt die Frage, was mit den zwölf Prozent ist, bei denen der Rucksack technisch nicht in Ordnung war? Kartusche leer?

Ja genau, leere Kartusche, Kartusche nicht eingeschraubt, Seil über den Rucksack geworfen, solche Sachen.

Eine vielleicht etwas abwegige Frage aber: Gibt es eigentlich ein Mindesthaltbarkeitsdatum bei Lawinenairbags?

Ja, das gibt es in der Tat. Das ist vom TÜV vorgegeben. Die maximale Lebensdauer eines Lawinenairbags beträgt zehn Jahre.

Bezieht sich das nur auf das Airbag-System, also Auslöseeinheit und Airbag?

Nein, das bezieht sich auf den ganzen Rucksack. Man darf das nicht mit einem normalen Rucksack vergleichen. Den das ist ein geschlossenes System im Zusammenspiel zwischen Ballon, Rucksack und Gurt. Da sind spezielle Bänder in einer speziellen Anordnung vernäht.

Wie verändern Lawinenrucksäcke das Skitourengehen und Freeriden?

Es gibt ja den Ausdruck des „Risky Shift“, also die Hypothese, dass sich der Anwender von Sicherheitsausrüstung mehr zutraut – und damit den Sicherheitsgewinn, den er eigentlich hätte, gleich wieder zunichte macht. Wie stehst Du zu dieser kontroversen Meinung?

Johannes Kuntze-Fechner: Wir plädieren an die Verantwortung jedes einzelnen. Was derjenige damit macht, können wir nicht beeinflussen. Das geht nur durch Wissen, wie es etwa in der Ortovox Safety Academy vermittelt wird. In einem Vortrag des SLF habe ich einmal eine gute Sichtweise dazu gehört: Da ging es um die Frage, wie sehr etwa ein Lawinenrucksack zur Standardausrüstung gehört. Wenn man das mit einem Airbag im Auto vergleicht, sieht das so aus: Keiner überlegt mehr, ob da ein Airbag drin ist oder nicht. Das ist so weit ins Off gedrängt, dass es die Entscheidung, wie man Auto fährt, nicht mehr beeinflusst.

Letztlich ist das natürlich auch eine Wahrscheinlichkeit, die so oder so ausgehen kann. Und natürlich will man auf der richtigen Seite der Wahrscheinlichkeit sein.

In der angesprochenen Studie des SLF reduziert ein Lawinenairbag die Sterbewahrscheinlichkeit um neun Prozent, von 22 auf 13 Prozent. Das bedeutet – selbst wenn man die nicht aufgeblasenen Airbags miteinbezieht – einen Anteil an verhinderten Todesopfern von 41 Prozent in ein und derselben Lawine. Und wenn ich dann ein leichtes System habe, das ich unterwegs kaum merke – warum sollte ich diese Wahrscheinlichkeit nicht mitnehmen? Natürlich muss an erster Stelle stehen, gar nicht in eine Lawine zu kommen. Aber hundertprozentig ausschließen kann ich es auch ja mit viel Erfahrung nie.

Vielen Dank, Johannes, für Deine spannenden Einblicke und Antworten!

Alle Lawinenrucksäcke mit Avabag bei Bergzeit:

Daten zum Avabag-System:

  • Gewicht: 690 Gramm
  • Volumen: 1,8 Liter
  • Besonderheiten: Testfunktion, verbesserter Auslösegriff
  • Auszeichnung: ISPO-Product of the Year 2016/17

 Mehr zum Thema Lawinenairbags und Ortovox im Bergzeit Magazin

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